Deliktische Anknüpfung, Rom II und neue Risikolage für Hersteller in Frankreich
Von unserem DIRO-Anwalt in Paris, Herr Gordian Deger, Tel: +33 (0)1 81516558 , E-Mail: deger@qivive.com , www.qivive.com
Überblick
Die französische Cour de cassation hat mit zwei Grundsatzurteilen vom 28. Mai 2025 (Az. 23‑13.687 und Az. 23‑20.341) den Direktanspruch eines Untererwerbers gegen den Hersteller in grenzüberschreitenden Lieferketten kollisionsrechtlich als außervertraglich eingeordnet. Im Unterschied zur bisherigen Rechtsprechung binden Rechtswahl- und Gerichtsstandsabreden aus dem Erstkaufvertrag den Untererwerber nicht mehr. Folge: Die Anwendung des französischen Deliktsrechts und der französischen Verjährungsfrist von 5 Jahren ab Kenntniserlangung steigt. Für deutsche Hersteller steigt damit das Haftungs- und Prozessrisiko bei Frankreichbezug spürbar.
1. Hintergrund
In beiden Fällen handelte es sich um Lieferketten, in denen ein Endabnehmer (bzw. ein Untererwerber) Mängel an einem Produkt rügte und deswegen nicht nur seinen unmittelbaren Verkäufer, sondern auch den Hersteller direkt in Anspruch nahm.
Im ersten Fall enthielten die AGB des Erstverkäufers eine Rechtswahlklausel zugunsten des deutschen Rechts. Im zweiten Fall ging es um forstwirtschaftliche Maschinen, die über verschiedene Zwischenhändler aus Tschechien nach Belgien und Luxemburg gelangten. In den Verkaufsbedingungen des Herstellers war eine Rechtswahl zugunsten des tschechischen Rechts vorgesehen.
Im Unterschied zu vielen anderen Rechtsordnungen kennt das französische Recht bei Lieferketten einen Direkt- bzw. Durchgriffsanspruch des Letztabnehmers gegen die vorgelagerten Lieferanten der Lieferkette. Dieser von der Rechtsprechung entwickelte „action directe” ist nach französischem Verständnis vertraglicher Natur und basiert auf der Annahme, dass die Gewährleistungs-ansprüche des Ersterwerbers mit dem Eigentum an der Sache bei ihrer Weiter-veräußerung auf den Nacherwerber übergehen.
2. Kernaussagen der Urteile
- Der Kassationshof löst sich mit den besprochenen Urteilen von der vertraglichen Qualifikation der action directe des nationalen Rechts: Da zwischen Unter-erwerber und Hersteller kein Vertragsverhältnis besteht sind die maßgeblichen Ansprüche für die Bestimmung des anwendbaren Rechts und des Gerichtsstandes deliktisch zu qualifizieren.
- Die Cour de Cassation nimmt dabei Bezug auf die Urteile des EuGH „Jakob Handte“ vom 17. Juni 1992 (C-26/91) sowie „Refcomp“ vom 7. Februar 2013 (C-543/10).
- Konsequenz: Die Vertragsklauseln des Erstkaufvertrags zu Rechtswahl und Gerichtsstand „vererben“ sich grundsätzlich nicht mehr entlang der Lieferkette. Das anwendbare Recht richtet sich also nach der Rom-II-VO (insbesondere Art. 4 Abs. 1 – Recht des Erfolgsorts) und das zuständige Gericht nach Art. 7 (2) der EuGVVO (unerlaubte Handlung).
- Für Ansprüche aus unerlaubter Handlung ist Anknüpfungspunkt der gerichtlichen Zuständigkeit und des anwendbaren Rechts regelmäßig der Ort des Schadenseintritts (lex loci damni). Ausnahmen (gemeinsamer gewöhnlicher Aufenthalt, „escape clause“ bei engerer Verbindung) bleiben im Einzelfall zu prüfen.
- Damit folgt die Cour de cassation der unionsrechtlichen Rechtsprechung: Untererwerberklagen gegen Hersteller sind zuständigkeitsrechtlich nicht „vertraglich“; Gerichtsstandsklauseln aus dem Erstkaufvertrag binden Dritte, die ihnen nicht zugestimmt haben, nicht.
- Praktischer Effekt: Untererwerber mit Sitz in Frankreich werden eher das Deliktsforum am Erfolgsort wählen und Ansprüche aus französischem Deliktsrecht geltend machen. Der Hersteller kann sich in diesen Fällen nicht mehr wie bisher auf die Zuständigkeitsvereinbarung und die Rechtswahlklausel aus dem Erstkaufvertrag berufen, um die Zuständigkeit des französischen Gerichts und die Anwendbarkeit des französischen Rechts abzuwenden.
3. Materielle und verjährungsrechtliche Implikationen bei Frankreichbezug
- Es ist zu erwarten, dass die deliktische Qualifikation auf der Ebene des Kollisionsrechts auf der Ebene des materiellen Rechts regelmäßig auch zur Anwendung des französischen Deliktsrechts (allgemeine Verschuldenshaftung, Art. 1240 Code civil) führen wird.
- Der deliktische Maßstab setzt ein objektiv fehlerhaftes Produkt sowie Verschulden, Schaden und Kausalität voraus; bloße Abweichungen von Beschaffenheitsvereinbarungen genügen regelmäßig nicht.
- Anders als das deutsche Recht ermöglicht das französische Deliktsrecht auch den Ersatz von Vermögensschäden und setzt keine Verletzung eines absoluten Rechts voraus.
- Zudem verjähren deliktische Ansprüche nach französischem Recht in fünf Jahren ab Kenntnis der anspruchsbegründenden Umstände (Art. 2224 Code civil), was einen deutlich längeren Risikozeitraum als nach deutschem Kaufrecht bedingt. Die Frist beginnt mit Kenntniserlangung vom Mangel durch den Letzterwerber, u. U. sogar erst nach Abschluss eines selbständigen Beweisverfahrens.
4. Folgen für Hersteller, Zwischenhändler und Versicherer
- Verlust der Steuerungsmöglichkeiten über Vertragsklauseln beim Erstverkauf: Die Vereinbarungen betreffend Rechtswahl und Gerichtsstand aus dem Erstvertrag entfalten gegenüber Untererwerbern keine Bindungswirkung. Die Kette lässt sich vertraglich nicht mehr „durchregeln“.
- Asymmetrien in der Regresskette: Zwischenhändler können deliktisch nach französischem Recht haften, während ihr Rückgriff gegen den Hersteller vertraglich (z.B. nach deutschem Recht) zeitlich und inhaltlich begrenzt ist.
- Versicherungsdimension: Bei Anwendung französischen Rechts kommen Direktansprüche auch gegen Haftpflichtversicherer in Betracht; je nach Schadensaufkommen ist mit steigenden Prämien zu rechnen.
5. Offene Fragen
- Die von der Cour de Cassation vorgenommene deliktsrechtliche Qualifikation betrifft primär die europarechtlich autonom geregelten Fragen des anwendbaren Rechts und der Zuständigkeit. Wie Instanzgerichte die materiellrechtliche Subsumtion anschließend handhaben (insb. das Verhältnis zum nationalen vertraglichen Verständnis der action directe), bleibt abzuwarten.
- Wahrscheinlich ist jedoch, dass infolge der deliktsrechtlichen Qualifikation auf der Ebene des Kollisionsrechts häufig auch nationales materielles Deliktsrecht zur Geltung gelangen wird. Theoretisch wäre auf der Ebene des materiellen französischen Rechts aber auch eine weiterhin vertrags¬rechtliche Qualifizierung der Ansprüche denkbar.
6. Praxisempfehlungen
- Vertriebswege kartieren, Frankreich-Bezug transparent erfassen; Schadenseintrittsorte antizipieren.
- Vertragsarchitektur: AGB/Verträge prüfen und – soweit möglich – Haftungsbegrenzungen und/oder Freistellungsklauseln in der Lieferkette verankern; Regressmechanismen robust gestalten.
- Qualitäts- und Beweiskette: Technische Compliance, Prüf- und Freigabedokumentation, Warnhinweise und Gebrauchsanleitungen revisionssicher aufsetzen; Rückverfolgbarkeit (Traceability) stärken.
- Versicherung: Deckungskonzepte auf Direktansprüche im Ausland prüfen, Sublimits und Obliegenheiten sowie Schnittstellen zwischen Produkthaftpflicht und D&O/Vertriebsdeckung klären.
Fazit
Die Entscheidungen vom 28. Mai 2025 erhöhen für deutsche Hersteller und Händler das Haftungs- und Prozessrisiko in Lieferketten: Bei Direktklagen französischer Untererwerbern steigt künftig das Risiko der Anwendung des französischen Deliktsrechts mit den oben beschriebenen Konsequenzen, insbesondere längere Verjährungsfristen und eine begrenzte Steuerbarkeit des Risikos über vertragliche Klauseln. Wer Lieferketten, Vertragsnetz und Beweisdokumentation strategisch justiert und seine Versicherungsdeckung nachschärft, kann diese Risiken jedoch reduzieren.