Schweigepflicht (Niederlande) Ärztliche Schweigepflicht vs. Polizei/Justiz: Wann darf die Schweigepflicht durchbrochen werden? (NLD)
Ärzte/Gesundheitseinrichtungen und Polizei/Justiz scheinen immer öfter miteinander in Berührung zu kommen. Dabei scheint der Reflex des Gesundheitsdienstleisters zu sein, dass man (medizinische) Daten über einen Patienten herausgeben muss, wenn die Polizei/Justiz diese anfordert. Das ist aber ein großes Missverständnis.
Wenn die Daten im Rahmen der Fahndung angefordert werden, kann sich der Gesundheitsdienstleister auf die ärztliche Schweigepflicht berufen und sich nach Artikel 218 der niederländischen Strafprozessordnung (Wetboek van Strafvordering, Sv) weigern, die angeforderten Daten herauszugeben. Das führt oft zu Fragen und manchmal zu Konflikten zwischen Gesundheitsdienstleister und Polizei.
Das verwundert nicht, wegen der gegenläufigen Interessen: das Interesse an der ärztlichen Schweigepflicht gegenüber dem Interesse an der Feststellung von Straftaten. Zwei wichtige Säulen. Der Hoge Raad hat sich kürzlich wieder mit der Frage beschäftigt, wann (unter welchen Umständen) das Interesse an der Aufdeckung der Wahrheit Vorrang vor dem Recht auf ärztliche Schweigepflicht bzw. dem (Aussage-)Verweigerungsrecht haben sollte.
Worum geht es in der Rechtssache?
Klägerin in dieser Rechtssache ist ein Krankenhaus, das sich in Bezug auf die Krankenakten eines Patienten auf ein ihr zustehendes abgeleitetes Verweigerungsrecht beruft. Am 31. Dezember 2020 wurde ein damals dreijähriges Kind als Notfall im Krankenhaus aufgenommen. Es war bewusstlos, schlapp und hatte abweichende Pupillen. Es schien sich auch um Verwahrlosung zu handeln. In seinem Blut wurde eine sehr hohe Konzentration von GHB festgestellt. Aufgrund dessen wurde (offensichtlich von den Ärzten des Krankenhauses) eine Meldung bei dem Vertrauensarzt der Organisation Veilig Thuis („Sicheres Zuhause“) hinterlassen, dass es sich möglicherweise um Kindesmisshandlung handeln könnte. Daraufhin wurde ein Ermittlungsverfahren begonnen und die Mutter des Kindes als Verdächtige im Rahmen eines versuchten Totschlages oder schwerer Misshandlung betrachtet.
Im Rahmen dieses Ermittlungsverfahrens hat die Staatsanwaltschaft mit einer Ermächtigung des Untersuchungsgerichts gemäß Art. 126nf Sv die (Teile der) Krankenakte des Kindes vom Krankenhaus angefordert. Das Krankenhaus hat sich, in Rücksprache mit den betreffenden Kinderärzten, mit einer Geltendmachung des abgeleiteten Verweigerungsrechts geweigert und beim Untersuchungsgericht eine Beschwerde nach Art. 98 Sv eingereicht. Das Untersuchungsgericht hat festgestellt, dass der Beschwerdeführerin (Krankenhaus) ein abgeleitetes Verweigerungsrecht zusteht (und dass die angeforderten Unterlagen ausdrücklich darunterfallen) und entschieden, dass hier sehr außergewöhnliche Umstände vorliegen, in denen das Interesse an der Wahrheitsfindung gegenüber dem Verweigerungsrecht überwiegt. Die Beschwerde wurde für unbegründet erklärt und das Untersuchungsgericht hat die Beschlagnahme der Krankenakte gestattet, sofern sich Angaben darin auf die Aufnahme des Kindes vom 31. Dezember 2020 beziehen. Ferner hat das Untersuchungsgericht entschieden, dass diese nur dann zur Kenntnis genommen werden können, wenn eine Beschwerde nach Art. 552a Sv unwiderruflich entschieden wurde. Die Beschwerdeführerin hat dem Untersuchungsgericht daraufhin einen Teil der Krankenakte des Kindes verschlüsselt zugeschickt und zugesagt, dass das Passwort nachgesendet wird, falls unwiderruflich entschieden werden sollte, dass das Verweigerungsrecht durchbrochen werden dürfe.
Im Namen des Krankenhauses wurde anschließend eine sogenannte Beschwerdeschrift nach Art. 552a Sv gegen die Entscheidung des Untersuchungsgerichts eingereicht, in der das abgeleitete Verweigerungsrecht erneut geltend gemacht und die Aufhebung der Beschlagnahme und Rückgabe der Krankenakte gefordert wurde.
Das Gericht hat in seinem Urteil vom 5. April 2022 entschieden, dass die Beschwerdeführerin zwar ein abgeleitetes Verweigerungsrecht hat, aber dass sehr außergewöhnliche Umstände vorliegen, die das Durchbrechen des Verweigerungsrechts rechtfertigen, und die Beschwerde für unbegründet erklärt.
Die Kassationsbeschwerde richtet sich gegen diese Entscheidung.
Entscheidung des Hoge Raad
Liegen sehr außergewöhnliche Umstände vor, die dieses Durchbrechen des abgeleiteten Verweigerungsrechts rechtfertigen? Das Krankenhaus beruft sich auf das abgeleitete Verweigerungsrecht in Bezug auf die Beschlagnahme der Krankenakte des dreijährigen Kindes, soweit sie sich auf die Krankenhausaufnahme beziehen, bei der GHB im Blut des Kindes nachgewiesen wurde. Der Hoge Raad stellt fest, dass das Recht des Arztes auf Verweigerung insofern nicht absolut ist, als sehr außergewöhnliche Umstände denkbar sind, unter denen das Interesse an der Aufdeckung der Wahrheit – auch in Bezug auf das, was ihm als solches anvertraut wurde – gegenüber dem Verweigerungsrecht überwiegen muss (vgl. HR 30. November 1999, ECLI:NL:HR:1999:ZD7280).
Welche Umstände sehr außergewöhnlich sind, kann nicht in einer allgemeinen Regel erfasst werden, aber Faktoren, die bei der Beantwortung dieser Frage eine Rolle spielen können, sind beispielsweise der Umstand, dass es sich um schwere Straftaten handelt und die Daten nicht auf andere Weise beschafft werden können (vgl. HR 30. Juni 2017, ECLI:NL:HR:2017:1205). In diesem Zusammenhang gilt weiter, dass, wenn das Interesse an der Aufdeckung der Wahrheit überwiegt, der Eingriff in das Verweigerungsrecht nicht über das hinausgehen darf, was für die Aufdeckung der Wahrheit des betreffenden Sachverhalts unbedingt erforderlich ist. (Vgl. HR 29. Juni 2004, ECLI:NL:HR:2004:AO5070).
Das Gericht hat im vorliegenden Fall für wichtig erachtet, dass (i) es sich um einen Verdacht auf eine schwere Straftat gegenüber einem sehr jungen Kind handelt, (ii) im Blut des Kindes eine erhebliche Menge GHB nachgewiesen wurde, während im Schlafzimmer des/der Verdächtigen ein Fläschchen GHB gefunden wurde und mehrere Personen ausgesagt haben, dass der/die Verdächtige Drogen, einschließlich GHB, konsumierte, (iii) sich die geforderten Daten nur auf die Aufnahme des Kindes am Aufnahmetag beziehen, (iv) der Gerichtsmediziner von NFI Quelldaten benötigt, um die genaue Menge an GHB, die im Blut des Kindes nachgewiesen wurde, und die davon ausgehenden Gefahren zu bestimmen und (v) diese Daten außerdem nicht auf anderem Wege zu erhalten sind. In Bezug auf die in (iv) und (v) genannten Umstände hat das Gericht offensichtlich auf Grundlage der Mitteilungen der Staatsanwaltschaft zum Hintergrund der Beschlagnahme der Daten als erwiesen angesehen, dass der von der Staatsanwaltschaft angeforderte Gerichtsmediziner die Gesamtheit der medizinischen „Quelldaten“ über den Krankenhausaufenthalt des Kindes am Aufnahmetag benötigte, um „gründliche“ gerichtsmedizinische Untersuchungen zur Gefährdung des Kindes durch das in seinem Blut nachgewiesene GHB durchführen zu können. Daraus folgt, dass Informationen, von denen die Staatsanwaltschaft auf andere, indirekte Weise Kenntnis erlangt hat, und mögliche Informationen, die bei der Organisation Veilig Thuis anzufordern sind, für diese forensische Untersuchung nicht ausreichen, auch unter Berücksichtigung der Tatsache, dass dabei die Richtigkeit und Vollständigkeit dieser indirekt erlangten oder zu erlangenden medizinischen Informationen nicht festgestellt werden kann. In Anbetracht all dessen weist das Urteil des Gerichts, dass die oben genannten außergewöhnlichen Umstände vorlagen, keinen Rechtsfehler auf und ist (auch im Lichte des Vorbringens der Beschwerdeführerin) hinreichend begründet, so der Hoge Raad.
Hinweis
Wenn Sie sich als Gesundheitseinrichtung oder als Arzt mit der Frage konfrontiert sehen, ob die Schweigepflicht in bestimmten Situationen durchbrochen werden darf, lässt sich auf den sehr hilfreichen Leitfaden KNMG Handreiking verweisen. Dieses Dokument versucht eine Orientierungshilfe für Ärzte zu sein. In manchen Fällen muss die Überlegung, die Schweigepflicht zu durchbrechen, in der Krankenakte verzeichnet werden. Weil die Krankenakte primär als Hilfsmittel bei der Versorgung des Patienten dient, muss das nicht in allen Fällen so sein. In diesem Leitfaden wird empfohlen, die Überlegungen, die zur Erteilung von Informationen auf Grundlage eines Pflichtenkonflikts geführt haben, in der Akte zu notieren. Allerdings sind auch Situationen denkbar, in denen es sich – unter Berücksichtigung der Versorgung des Patienten – empfiehlt zu notieren, welchen Grund es gibt, die Schweigepflicht (noch) nicht zu durchbrechen. Vor allem wenn ein Arzt konkrete Hinweise auf Gefahrensituationen hat, aber nach Abwägung dennoch beschließt, die Schweigepflicht (noch) nicht zu durchbrechen.
Gesetzgebung und Rechtsprechung zu den Möglichkeiten des Durchbrechens der Schweigepflicht sind nicht immer eindeutig, auch nicht für Ärzte. Deshalb ist dieser Leitfaden ein praktisches Hilfsmittel, um in konkreten Situationen eine Orientierungshilfe hinsichtlich der Anwendung der bestehenden Normen zu bieten, die in Gesetzen und Vorschriften und geltender Rechtsprechung im Bereich der ärztlichen Schweigepflicht im Zusammenhang mit Polizei und Justiz verankert sind. Dieses Dokument enthält keine neuen Normen – und ist deshalb auch keine Richtlinie, sondern ein Leitfaden – sondern dient als praktisches Hilfsmittel für Ärzte, wenn fraglich ist, wir gegenüber Polizei und Justiz mit der Schweigeflicht umzugehen ist. Ärzte kommen gelegentlich mit Polizei und Justiz in Berührung. Manchmal als Opfer einer Straftat, manchmal als Zeugen oder sogar als Tatverdächtige. In solchen Situationen können Fragen in Bezug auf Polizei und Justiz zu erteilende Informationen und dem Verhältnis zur Schweigepflicht entstehen. Dieser Leitfaden enthält einen allgemeinen Teil zur Schweigepflicht (Teil I). Teil II behandelt einige besondere Situationen, in denen sich Fragen rund um die Schweigepflicht von Ärzten stellen können.
Erläutert wird, wie Ärzte in diesen besonderen Situationen mit der Schweigepflicht umgehen müssten.